Plötzlich Normal? Das Homeoffice und die Verteiltheit sind gekommen, um zu bleiben.

Von Nikolaos Kaintantzis, publiziert auf LinkedIn am 3. Juni 2023

Zwischen den Schlagworten “das neue Normal” und “Zurück zu den guten alten Zeiten sobald Corona vorbei ist” liegt unsere Realität. Wir sind nicht mehr gezwungen ausschliesslich von Zuhause zu arbeiten. Aber jeden Tag ins Büro gehen, will auch niemand mehr.

In diesem Artikel geht es darum, den richtigen Weg für Ihr Unternehmen oder Ihr Team zu finden.

(Englische Version erscheint in den nächsten Tagen)

März 2020 inmitten der ersten COVID-Welle veröffentlichte ich den Artikel “Plötzlich verteilt? Eine ganzheitliche Sicht ist gefragt!”, um meine Erfahrung aus Nearshoring-Mandaten in die neue Welt zu transferieren, in der alles ins Home-Office verlagert wurde.

Fast zeitgleich erschien der Extended SAFe Guidance Artikel “Successfully in Agile with Remote Team Members”.

Drei Jahre später sitze ich mit einem Freund im Café und er fragt mich: “Zieht dich das ständige Home-Office auch runter?”

In den Jahren 2020 und 2021 kam immer wieder die Frage “Wann kehren wir zur Normalität zurück?”

Spoiler-Alert: Es gibt und es gab nie ein Zurück. Es gibt nur ein Vorwärts

Das Haus der Krise

Um die Situation – es gibt nur ein Vorwärts –  zu visualisieren, habe ich das "Haus der Krise" angepasst. Das Modell hilft Coaches, das Vorgehen in einer Krise greifbar zu machen. 

Haus der Krise (angepasst)

In der Krise ist es normal, dass Emotionen hoch und runterkochen, das es einen nach links und rechts reisst. Man sieht keinen Ausweg aus der Situation (graue Linien). Man hofft, dass es weitergeht wie vorher (schwarze Linie). Diese Emotionen brauchen Raum. Nach einem längeren Prozess werden die ersten Wege aus dem Haus sichtbar (blaue Linien). Einer davon wird die neue Realität für das System sein, in dem sich die Person oder das Team befindet..

Das Modell des Hauses der Krise veranschaulicht, dass  es kein Zurück gibt und dass der Übergang kein einfacher ist. Ebenso, dass Emotionen wichtig und notwendig sind.

Während der Pandemie habe ich eine Reihe von Retrospektiven-Formate entwickelt, darunter auch das folgende: 

Zum Einstieg die Fragen

  1. Was war die grösste Überraschung?

  2. Wofür sind Sie dankbar?

  3. Was haben Sie vermisst?

  4. Was hat Ihnen gefallen und was würden Sie gerne behalten?

Und als Arbeitssitzung die folgende 2x2-Matrix

Retrospektive zur Zusammenarbeit

Auf der positiven Seite: 

  • Alte Dinge / Verhalten beibehalten? (Vor Covid)

  • Neue Dinge / Fähigkeiten / Verhaltensweisen, die wir ertragen müssen (jetzt)

Auf der Minusseite: 

  • Alte Dinge, die wir loswerden müssen? (Vor Covid)

  • Neue Dinge, die wir loswerden müssen? (jetzt)

Diese Retrospektive macht transparent, dass nicht alles Alte automatisch gut war. Ebenso ist nicht alles Neue automatisch schlecht. Wir können als Team neue Abmachungen treffen.

Aber um nicht in die nächste Krise zu schlittern, biete ich eine wichtige Erfahrung aus meinen Nearshoring-Projekten (vor Covid) an.

Meine Nearshoring-Projekte waren auf den ersten Blick teurer als die von anderen Anbietern. Der Hintergrund waren physische Treffen. Die Teams reisten regelmässig, um sich vor Ort zu treffen. Im Falle von SAFe waren es die PI-Plannings und die Inspect and Adapt Sessions, welche die PI System Demo enthalten. Ohne SAFe gab es ähnliche Veranstaltungen.

Auf den zweiten Blick war die Effektivität jedoch höher, die Mitarbeitenden konnten besser Hand in Hand arbeiten. Es herrschte Vertrauen ineinander und in die Fähigkeiten der anderen.

Vertrauen

Dieses Vertrauen wurde durch physische Treffen aufgebaut. Ich halte persönliche Treffen nach wie vor für wichtig. Rein verteiltes Arbeiten ohne persönliche Treffen führt meiner Meinung nach zu Subkulturen und Vertrauensverlust. Vertrauensverlust fördert das Entstehen kleiner Gruppen mit Subkulturen.

Regelmässige Veranstaltungen mit allen Team-Mitgliedern (mehrmals im Jahr) sind wichtig. Und zwar nicht immer am Hauptstandort. Aber dazu bei anderer Gelegenheit mehr...

Ohne Begenungen sinkt das Vertrauen der Teammitglieder mit der Zeit

Also: physische Treffen stärken und steigern das Vertrauen. Die Gemeinschaft wird wieder aufgewertet. Fronten, die sich auftaten, werden aufgeweicht und abgebaut.

Auch Remote-Meetings stärken das Vertrauen. Doch vieles, was bei Vor-Ort-Veranstaltungen automatisch geschieht, muss bewusst in Remote-Meetings eingebaut werden. Je nach „Architektur“ des Meetings steigt das Vertrauen ein wenig oder sogar fast so hoch wie bei Treffen vor Ort.

Gestaltung künftiger Arbeitsvereinbarungen

In diesem Sinne gilt es nun, neue Abmachungen zu gestalten.

Aus den vielen Durchführungen der oben genannten Retrospektiven  geht oft hervor:

  • Die Infrastruktur zu Hause ist professionell, wenn nicht sogar professioneller als im Büro

  • Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben hat neue Optionen ermöglicht, diese will niemand mehr missen

  • Hybride Meetings sind die Regel. Sie werden aber auch als Schlechteste aus beiden Welten angesehen. Demnach müssen diese Meetings anders gehandhabt werden als Vor-Ort-Treffen

Zurück zum Treffen mit meinem Freund im Café und der Frage, ob die Situation im Home Office auch mich belastet.

Ja und nein. In all meinen Arbeitskontexten ist das Home-Office Teil der Arbeitsvereinbarungen. Hybride Meetings haben bestimmte Regeln und Strukturen. Wenn diese Regeln und Strukturen bewusst gestaltet wurden (siehe auch “Plötzlich verteilt? Eine ganzheitliche Sicht ist gefragt!”)  , dann belastet mich das Homeoffice nicht. Eine Belastung ist es für mich nur dann, wenn die hier genannten Aspekte fehlen. Wenn die Meetings nicht auf die Umstände des remote Arbeitens eingehen

Zu den Vereinbarung gehören auch feste Team(halb)tage vor Ort, an denen wieder spontane Gespräche in Pausen oder zwischen Tür und Angel möglich sind, an denen wir Erfolge feiern und Konflikte bearbeiten können.

Was “plötzlich normal” ist, können wir selbst definieren. Und das sollten wir auch.