Sind Führungskräfte leidende oder leitende Angestellte in einer SAFe-Einführung?
Von David Baer und Vincenzo Parisi, publiziert auf LinkedIn am 8. August 2023
Entwicklungschancen für Führungskräfte Dank der Einführung von SAFe®.
Das Scaled Agile Framework (SAFe) trägt es im Namen: Es ist ein agiles Rahmenwerk. Wie andere agile Rahmenwerke überträgt es einige Verantwortung in die Teams. Eines der zehn SAFe-Prinzipien lautet gar: «decentralize decision-making». Ist also eine Einführung von SAFe nicht ein Widerspruch dazu, Führungskräften mehr Chancen auf ihren persönlichen Beitrag zum Unternehmenserfolg zu versprechen? Ihnen mehr Anerkennung zu versprechen? Müssen nicht zwangsläufig die Führungskräfte von heute Macht abgeben?
Unsere Erfahrung ist: Eine agile Transformation eröffnet vielen Führungskräften Chancen.
SAFe und der Dual Organization Approach: die zwei Betriebssysteme
SAFe und das agile Arbeiten sind Organisationsweisen, die sich sowohl von Projekten, Programmen, und vor allem der Linienorganisationen unterscheiden. Eine Chance mit der Einführung von SAFe zu gewinnen, liegt in dem SAFe zugrunde liegenden Dual Organization Approach. Die Idee des Dual Organization Approach geht auf Publikationen von John Kotter zurück, unter anderem in seinem Buch «Accelerate». Er propagiert darin zwei «Betriebssysteme». Eines, das innovativ und anpassungsfähig ist. Und eines, das stabil und effizient ist. Nennen wir sie im weiteren Verlauf - der Einfachheit halber - agiles und stabiles Betriebssystem.
Die Einführung von SAFe gilt für das agile Betriebssystem. In diesem agilen Betriebssystem gibt es einen oder mehrere Agile Release Trains (ARTs). Ein ART ist ein Team of Teams mit 50 bis 125 Personen. Eine SAFe-Einführung umfasst mindestens den Launch eines ART, dies ergibt die «Essential» genannte Minimalkonfiguration. Die Einführung kann ein Vorhaben (ein vormaliges Projektprogramm etwa) transformieren oder eine Transition eines Teiles eines bestehenden Organisationsbereiches umfassen.
Das zweite, stabile Betriebssystem bleibt erhalten. Statt alles zu transformieren, werden die Stärken dieses bestehenden, stabilen Betriebssystems genutzt.
Klassische Führungsaufgaben werden auf verschiedene Rollen verteilt, die wir im Folgenden näher beschreiben.
Neue Chancen für Führungskräfte im agilen Betriebssystem
In SAFe gibt es eine klare Rollenteilung: Inhaltliche Themen übernimmt die Product Management/Product Owner Struktur. «Disziplinarische Themen», Entwicklung, Zusammenarbeit übernehmen RTEs und ScrumMasters, beziehungsweise die Teams.
Eine zentrale Aufgabe in SAFe ist, einen organisationalen Rahmen zu schaffen, in dem die Teams entsprechend ihrer Expertise entscheiden können. Bisweilen bedeutet dies, Menschen überhaupt darin auszubilden, unternehmerische Entscheidungen zu treffen. Dazu gehört auch, ihnen Entscheidungsrichtlinien zu geben. Die verantwortlichen SAFe-Rollen sind Team Coaches und Release Train Engineers. Für diese beiden Rollen werden oftmals Menschen mit keiner oder wenig Führungserfahrung gewählt und häufiger noch Menschen ohne ausreichende Macht im Unternehmen. Dabei haben genau diese Rollen einen grossen gestalterischen Spielraum. Durch ihren Problemlösungscharakter sind diese Rollen die Treiber der Transformation. Die Chance für eine souveräne Führungskraft besteht darin, Veränderungen in der Arbeitsweise wirksam zu forcieren. Oder wie uns der geschäftsführende Unternehmer eines grösseren mittelständischen Unternehmens im Bereich Elektrik sagte: Ich bin der Coach für das Unternehmen und als solcher sorge ich dafür, dass alle so arbeiten können, dass wir für unsere Kunden das Beste liefern.
Bei der Einführung von Agilität können sich auch für Personen, die vormals stärker in fachlicher Führung waren, neue Chancen eröffnen: SAFe gibt fachlichen Führungskräften die Chance unternehmerisch zu wachsen und Lösungen zu gestalten. Während ProjektleiterInnen durch ihre Verpflichtung der inhaltlichen Planung stärker eingebunden sind, bieten die Rollen im ART (Product Owner, Product Management, System Architect) die Chance aus dem Mikromanagement herauszukommen.
Das zuvor erwähnte SAFe-Prinzip «decentralize decision-making» übergibt alle Entscheidungen lokal, die lokal getroffen werden können. Die Entscheidungen, die Personen in Teams treffen können, sollten dort und nirgends anders getroffen werden. Zentralisiert werden nur notwendige Entscheidungen. Gute UnternehmerInnen treffen nur wenige Entscheidungen, dafür weitreichende. Sie sind nicht ständig in Abstimmungen, nicht in jede Diskussion involviert.
Die neuen Führungskräfte können daher mehr gestalten. Sie können sich verstärkt um Strategie und Taktik kümmern. Koordinieren, wo sie vorher Notfälle gelöst haben. Exploration betreiben, wo sie bisher mit kurzfristigen Plänen beschäftigt waren.
Dabei sind die die Ebenen von SAFe (Team, ART, Portfolio) eine grosse Hilfe, sie geben gewissermassen Grenzen von Entscheidungsspielraum vor. (https://www.patternsinagile.com/post/abstraktionslevel)
Neue Möglichkeiten der Einflussnahme ergeben sich für Führungskräfte mit direkter Kunden- und/oder Profit-Loss Verantwortung in der Rolle als Business Owner. Sie gehören zu den einflussreichsten Stakeholder der ARTs. In Reviews und Demos wird auch ihnen regelmässig der Entwicklungsstand präsentiert und sie können durch ihre Rückmeldungen die weitere Entwicklung unmittelbar, ohne «politische» Umwege steuern.
Mehr Chancen für Führungskräfte im stabilen Betriebssystem
Nachdem all diese Arbeiten im agilen Betriebssystem abgedeckt werden, verbleibt für den «Team Lead» aus der Linie weniger Arbeit. Deswegen nimmt die Führungsspanne der Linie im stabilen Betriebssystem zu. Wir beobachten häufig, dass ein/e Linienvorgesetzte/r alle Personen in einem ART disziplinarisch führt.
Hier können erfahrene Führungskräfte punkten, denn die SpezialistInnen eines thematischen Bereiches benötigen einen fachkundigen Anlaufpunkt. Für alle formellen Situationen werden weiterhin Führungskräfte benötigt, die als formelle Instanz wirken. Liest sich wenig inspirierend, verbirgt aber weitreichende Verantwortung: Sondieren der Talente, Anwerben, Einstellen von Mitarbeitenden, Vermitteln innerhalb des Unternehmens, Umgang mit formalen Zwischenfällen, Ausstellen von Mitarbeitenden.
Linienführungskräfte können sich zunehmend auf das Entwickeln der Fähigkeiten des Unternehmens anhand dessen strategischer Ausrichtung konzentrieren. Zum Beispiel interne Programme der Entwicklung zu gestalten, oder extern einzelne Mitarbeitende oder ganze Unternehmen zu akquirieren.
In Unternehmen, die stark auf die Unterscheidung der zwei Betriebssysteme setzen, gewinnen disziplinarische Führungskräfte Anziehungskraft, in dem sie für ihre Themen den attraktivsten Anlaufpunkt bieten. Sie können Orientierung, Entwicklung und Verbindung anbieten.
Wer sind die neuen «Leader»?
«Lean-Agile Leadership» ist eine der Kernkompetenzen in SAFe. Leadership ist nicht auf einzelne Personen und ihrer Rolle begrenzt. In SAFe kann und sollte jede Person Leadership ausüben. Leadership wird als das Führen von Menschen definiert. Management, zur Abgrenzung, beschreibt das Gestalten von Organisationsregeln. In der Praxis ist selten das eine oder andere in Reinform aufzufinden.
Keine Organisationsveränderung führt sich von allein ein. Es sind Menschen, die eine Vision errichten. Es sind Menschen, die andere begeistern. Es sind Menschen, die schwierige Entscheidungen treffen. Es sind Menschen, die in unklaren Situationen die Richtung vorgeben. Es sind Menschen, die die Verbindungen zu anderen Menschen herstellen. Die Chance, diese Menschen zu sein, ist bei den Führungskräften am grössten. Sie müssen sie ergreifen. Für sich, Ihre KollegInnen, und das Unternehmen.
Gewinnen also durch eine SAFe-Einführung einfach Alle?
Gibt es also keine Verlierer? Nein. Ist das schlimm? Nein!
Unternehmen, nach Schumpeter, benötigen die kreative Zerstörung auch innerhalb. Der allererste Zweck des Unternehmens muss das Überleben sein. Ein interner sozialer Zweck kann dem dicht folgen, ist aber stets von ersterem abhängig. Es wird also auch die Menschen geben, die sich als Verlierer fühlen, widerstehen oder abgehen.
Aber: Macht ist keine Nullsumme. Mit dem Erfolg des Unternehmens wächst die Summe der Macht. Die Chance, zu gewinnen ist dann höher als die, zu verlieren. Das gilt für alle Mitarbeitenden aber insbesondere für Führungskräfte.